Arachnologische Mitteilungen 35

14 C.Muster, A. Herrmann, S. Otto & D. Bernhard Das Vorkommen von Cheiracanthium punctorium in Brandenburg war 2006 außerdemmehrmalsThema von Pressemeldungen imZusammenhang mit einer vermeintlich rasanten Ausbreitung der Art, wobei die Meldungen aus nördlichen Teilen des Landes nicht durch Belege oder zuverlässige Fotografien bestätigt sind. Zu einer regional begrenzten Phobie kam es im Jahr 2007 auch in Sachsen, nach einem Dornfinger-Biss am 20. Juli in Delitzsch. Zwischen dem 24. Juli und 22. August 2007 erschienen in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) und deren Lokalausgaben immerhin neun Beiträge mit teils drastischer Schilderung der Bisswirkung. So war in der LVZ vom 24. Juli 2007 zu lesen „Mit den langen Giftklauen verursachte er bei seinemOpfer höllische Schmerzen und setzte es für mindestens eine Woche außer Gefecht. ‚Es war so, als würde mir jemand einen Nagel durch das Fleisch jagen – nur viel schlimmer’“ (die amtsärztliche Schilde- rung des Falles wird unten wiedergegeben). Ein Belegexemplar vom Ort des Vorfalls wurde den Autoren von der Amtsärztin übergeben, es konnte bestätigt werden, dass es sich dabei tatsächlich um den Ammen-Dornfinger Cheiracanthium puncto- rium handelte. Dies ist erst der zweite publizierte Nachweis aus Sachsen nach einem Fund von 1993 in der Dübener Heide (T OLKE &H IEBSCH 1995). Allerdings konnte die Art bei mehreren Exkursio- nen in der Dübener Heide 2006 zumTeil in hohen Individuenzahlen an Standorten nachgewiesen werden, an denen sie 1993 trotz intensiver Suche nicht gefunden wurde (Tolke pers. Mitt.). Ein bemerkenswerter Fund gelang kürzlich V. Kuschka am Geisingberg im Osterzgebirge. Seit den 1990er Jahren breitet sich eine zweite Cheiracanthium -Art mit verbürgter Giftwirkung beim Menschen nach Mitteleuropa aus. Chei- racanthium mildei L. Koch, 1864 wanderte vom Mittelmeergebiet offenbar über die Oberrheini- sche Tiefebene nach Deutschland ein (H EIMER & N ENTWIG 1991, J ÄGER 2000). Erste Funde im Raum Basel datieren aus dem Jahr 1983 (Hänggi pers. Mitt., ohne Datum publiziert in M AURER & H ÄNGGI 1990). ImRhein-Main-Gebiet ist die Art mittlerweile durchaus häufig ( Jäger pers. Mitt.). J ÄGER (2000) vermutete bereits, dass eine „Verbrei- tungstendenz nach Norden im (hemi)synanthropen Bereich nicht auszuschließen“ sei. Inzwischen wurde die Art auch in Nürnberg nachgewiesen (H OHNER 2006). Die hier vorgestellten neuen Funde aus Leipzig markieren aber nochmals eine deutliche Arealexpansion nach Nordosten. Im Gegensatz zu C. punctorium lebt C.mildei in den neu besiedeltenGebieten vorwiegend in oder zumindest in der Nähe menschlicher Behausungen, so dass ein Kontakt wesentlich wahrscheinlicher ist. Über die Giftwirkung existiert umfangreiches Schrifttum aus Nordamerika (S PIELMAN & L EVI 1970, K RINSKY 1987, F ORADORI et al. 2005, V ETTER et al. 2006), wo die Art ebenfalls eingewandert ist, und auch aus Italien (H ANSEN 1996). Da die Bevölkerung nach entsprechender Sen- sibilisierung durch die Presse dazu neigt, sämtliche schmerzhaften Verletzungen ohne erkennbaren Verursacher – also auch Insektenstiche und Schlan- genbisse – den Spinnen zuzuschreiben (H APP & H APP 1997, V ETTER et al. 2006) ist eine genaue Dokumentation von Häufigkeit und Verlauf veri- fizierter Dornfingerbisse unerlässlich. Der folgende Artikel soll dazu beitragen, kursierendeMythen von Invasion und Gefährlichkeit von Dornfingern in Deutschland durch Fakten zu ersetzen. Cheiracanthium mildei L. Koch, 1864 (Abb. 1) DeterminationundKennzeichen: B RYANT (1951) (Wiederbeschreibung), W OLF (1991), N ENTWIG et al. (2003), T HALER (2005) (Abb. Vulva). Diese nur etwa 7 mm Körperlänge erreichende Cheira- canthium -Art ist genitalmorphologisch eindeutig gekennzeichnet.DieMännchen besitzen als einzige der in Mitteleuropa vorkommenden Arten eine zweite, dorsale Tibialapophyse und einen kurzen Cymbiumsporn. Die Weibchen sind durch das Fehlen einer Epigynengrube charakterisiert. Verbreitung: Ursprünglich holomediterran, mit Verlauf der nördlichen Verbreitungsgrenze am Süd- abfall der Alpen (T HALER 2005). Cheiracanthium mildei neigt offenbar zu erfolgreicher Immigration: 1949 erstmals in Nordamerika nachgewiesen (B RY - ANT 1951) ist die Art heute in den USA und im südlichen Kanada weit verbreitet und stellenweise sehr häufig (D ONDALE & R EDNER 1982, K EMPF & R ELYS 2004, H OGG et al. 2006); neuerdings auch in Argentinien (P LATNICK 2007). In Europa Verbreitungstendenz nach Norden seit den späten 1980er Jahren (S ZINETAR 1992, J ÄGER 1995, 2000). Verbreitungskarte Deutschland: Abb. 2. Nachweise: Sachsen: Leipzig: Stadtbezirk Süd: Ortsteil Südvorstadt, Kurt-Eisner-Straße Ecke Karl-Liebknecht-Straße, TK 4640, 51°19’14’’N,

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